Dieser Beitrag dokumentiert einen Tag in meiner utopischen Zukunft. Ich bin um die 50 Jahre alt und teile in diesem Blogpost meine selektiv-privilegierten Erlebnisse. Ich zeige, was dann gut sein wird und nicht, wie es dazu kam – wobei Gespräche und Träume andeuten, was passiert sein könnte. Nach Corona. Bis jetzt. Träume mit mir…
Ein guter Start in den Tag
Paaapaaaaa… aufstehen! Einen Wecker gibt es in unserem Haushalt schon nicht mehr. Wie jeden Morgen weckt der Mixer mich. Meine Tochter Julia liebt es, mir morgens einen bunten Mix aus saisonal-regionalem Obst und Gemüse, ans Bett zu bringen. Ich stürze es runter und begebe mich mit ihr zum Spaziergang durch unseren riesigen Garten.
Eines grauen Frühlingstages wurde klar, dass ich nicht allein alt werden möchte. Dass Leben immer auch Gesellschaft bedeutet. Mein “ich” braucht ein “wir” als Bereicherung verschiedenster “ichs” – diese Erkenntnis war der Grundstein für unsere Zukunft.
Unsere? Damit ist ein Kollektiv gemeint, mit dem wir zusammen leben und alle, von uns als wichtig erachteten, Entscheidungen gemeinsam treffen. Die Gruppenentscheidung, was für das “wir” wichtig ist, schafft somit Freiheit für das “ich”. Wie jeden Morgen bleibe ich auf dem Weg zum Garten vor der grünen Häuserfront stehen und bewundere ein bestimmtes Detail. Julia fällt mir ins Wort: “Ja, Papa, ich weiß, dass ihr das gemacht habt, um energiepositiv zu werden” Ihre Ungeduld Neues zu lernen, blitzt durch. Sie strahlt mich an. Und will weiter….
Sicherheit und Freiheit
Strahlend begrüßt Julia Onkel Hannes im Garten. “Was pflegst du heute?”, will sie neugierig wissen. Mein alter Freund Hannes erklärt ihr jeden Tag ausführlich, wie das Ökosystem unseres Gartens so funktioniert, dass wir nur ein bisschen was beisteuern müssen, damit alles im Gleichgewicht bleibt, sodass die Natur um uns herum gut lebt – und wir auch. Mit diesem Wissen hatte er mich damals auch zur Gärtnerei gebracht. So investieren wir heute also zu dritt eine Stunde darauf, den ausufernden Rucola zu ernten, um sensibleren Früchtchen mehr Platz zu bescheren.
Während der körperlichen Arbeit schweife ich in Gedanken ab und erinnere mich daran, wie wir einer immer stärker aufkommenden Gig Economy das ausbeuterische Element entzogen haben…
Hannes berichtet, dass er sich auf die Abwechslung freut. Heute Nachmittag stünde nach längerem mal wieder eine Auftragsarbeit als Designer an. “Durch das bedingungslose Grundeinkommen und einen Mindesttagessatz hat sich die Prekarisierung der kreativ Arbeitenden aufgelöst. Innerhalb kürzester Zeit entstand eine Gig Economy, in der nicht nur fair bezahlt wird – es gibt jetzt sogar detaillierte Briefings. Seitdem Auftraggeber und Auftragnehmer partnerschaftlich zusammenarbeiten, gönn ich mir den Joint auch wirklich nur mehr manchmal als Genuss…”
In Verbindung
Julia verdreht die Augen, als ich zur Antwort ansetze. Auch dieses, sich freudig-selbstbeweihräuchernde Gespräch wiederholt sich gerne mal – Hannes und ich lieben es über detaillierte Briefings, den Wandel der Wirtschaft hin zu kleinen, feinen Unternehmen, die Grundeinkommen-Revormultion und den Bewusstseinswandel zu und mit Gras zu philosophieren. Wir fanden damals ganz andere Diskussionen ermüdend. Aber gut…
Lange habe ich gebraucht, um anzunehmen, wie andere gerade völlig andere Bedürfnisse haben. Die sich Raum befindenden Energien zu verstehen und in Einklang zu bringen. Denen das zu geben, die es gerade am nötigsten haben. “Ich und “wir” zwischen Verantwortung und Freiheit versöhnen. Die menschliche Unterschiedlichkeit wertschätzen.
Entsprechend hab ich’s geahnt. Bevor Julia’s Unruhe durchbricht, wird sie von den jungen Nachbarhippies hopps genommen. Die fünf leben in völliger Glückseligkeit wie eine Seele. Und sie haben in unserer Community seit Längerem die Rolle inne, die früher ErzieherInnen gewesen wären. Die kleine Gruppe zieht gemeinsam ab – denn nach getaner Arbeit lechzt Julia jetzt nach Spiel, Spaß und Dollerei, bevor nachmittags eine Intensivsession “Reflexives Denken” auf dem Programm steht.
Utopische Zukünfte auf’s Neue denken
Nach der Verabschiedung beziehe ich meinen Arbeitsplatz im Garten. Ein Knopfdruck und der Bildschirm erscheint. Heute widme ich mich dem Wissenstransfer an andere Kollektive. Wir haben gerade entschieden, dass unsere ältere Generation die sich inzwischen etablierten Routinen einmal ausführlich vorstellt und begründet, was wir daran besonders gut und wichtig finden. Im Anschluss wird eine Gruppe jüngerer KritikerInnen Vorschläge für kleine, sofort umzusetzende Veränderungen und für die drei Themenkomplexe der nächsten Dekade vorlegen. Mir scheint die Jungen wollen mehr strukturelle Freiheit, fordern ein, dass wir unseren Fokus wieder mehr auf Unterschiedlichkeit und Alternativen zu richten. Sie erinnern uns, dass wir uns nicht auf dem Erreichten ausruhen dürfen – und vor allem keine alte Ordnung stabilisieren, die eigentlich wieder in eine Neue übergehen will. Für unser Kollektiv ist das das erste Mal, dass jung und alt dialogisch an die Meta-Strukturen herangehen. Glücklicherweise konnten wir auf zahlreiche Prozesse anderer Communitys zurückgreifen, die diese freiwillig in die Datenbank einspielten.
Ich träume davon, wie leicht es mir seit Jahren fällt, auf andere einzugehen – seitdem wir immer genügend Zeit haben, die Emotionen jeder einzelnen Person ernst, nicht zu ernst, zu nehmen. Durch den Wandel von Zeit, weg von der Stunde hin zu prozessualer Ergebnisorientierung, werden konflikterzeugende Gegenbewegungen meist durch Gespräche moderiert, ohne unter den Tisch zu fallen.
Darauf basierend modelliere und speise ich den Stand der Diskussion nicht nur intern bei uns ein, sondern stelle sie auch öffentlich zur Diskussion. Gerade will ich abschicken, da höre ich ein lauter werdendes klopfen. Ich denke daran, was Julia vermutlich gerade gelehrt bekommt: Reflexives doing, statt aktionistischem Hauptsache-was-gemacht und nehme das Gespräch an, bevor ich das s-e-n-d klopfe.
Glück auf dem Land
Und zack. Ploppt mein Bruder vor mir auf. Wir benutzen immer noch die alte Holografie-Technik. Einfach weil wir das damals so cool fanden. Julia würde wieder den Kopf schütteln, wenn sie mich “cool” sagen hört – “Man sagt heute grass, Papa!” Stattdessen sehe ich meinen Bruder. Er ist nach der großen Lockdown-Aufhebung raus aus Berlin und ab aufs Land. Die Menschenmaßen konnte er nicht mehr ertragen. Und heute grinst er mich an, sodass ich ihn ein bisschen necken muss: “Na bro, hättest du wirklich aufs Land flüchten müssen? Berlin ist doch inzwischen auch wunderbar renaturalisiert.”
Wir wissen beide, wie gut ihm diese absolute Ruhe tut. Spazierengehen, gärtnern und Musik machen. Der spätberufene Musiker im Einsiedler-Modus. Das ist das Geheimnis seines Seelenfriedens. Nur manchmal hat er wirklich Lust auf Menschen, reist virtuell zu seinen Lieblingsmenschen.
Ein kleines Kind stolpert ins Bild und strahlt Julian an. “Kannst du Lied spielen?” Er grinst noch breiter, trommelt direkt drauf los und stimmt einen tiefen Bass dazu an. Der Knirps applaudiert. Hoch zufrieden endet er und fauxt: “Deinen Kindern scheinen in der Community ja richtig gut zu gedeihen, du alter Kauz. Warst bestimmt schon wieder zu viel am Denken gerade, hm? Wie läuft’s denn inzwischen mit der Mutter?”
Wie wir zusammen leben
“Ey Jungs! Ihr solltet doch mit und nicht über Frauen reden” stürmt Hanna kichernd die Szenerie. Wir lachen. Mit Hanna habe ich die beiden Kinder gezeugt. Jetzt erzählt sie in ihrer begeisternden Art: “Seit dem ich deinen, ja doch auch ganz schön schrulligen, Bruder nicht mehr als Mittelpunkt betrachte, kann ich seine schönen Seiten wieder viel besser sehen. Würde sagen, wie verstehen uns besser als je zu vor, wa?” Sie strahlt mich an. Wo ich vor Jahren noch beleidigt reagiert hätte, kann ich nicht anders und strahle zurück.
Das Strahlen vertieft sich, als ich mich zurückerinnere: All die Kämpfe um so etwas wie Besitz in der Liebe – das ist heute zum Glück völlig überholt.
An meinen Bruder gewandt, schildere ich knapp die Lage. Es gibt keinen Besitzanspruch mehr in unserer Beziehung. Wir können uns in Liebe verbunden genügend Freiraum zugestehen. Auf weitere Nachfrage erkläre ich die neuesten Entwicklungen in unseren Rollen: Die Kinder haben immer mehrere Ansprechpartner für die jeweiligen Themen ihres Alters. Sie können auch mal Tage nicht bei den Eltern verbringen – wir sind nur verpflichtet, unseren Basisfunktionen nachzukommen. Hanna ergänzt: “Wir haben gerade zum siebten Mal in den letzten 11 Jahren die Basisfunktionen auf Arbeit angepasst. Endlich kann ich dort auch…”
Sie ist noch eine der ganz wenigen, die einen 25 Stunden-Vollzeitjob ausüben, den sie aber auch abgöttisch liebt. Lange war das ein Streitthema, doch inzwischen erfreue ich mich an diesem, ihrem Vogel. Und auch an den Vögeln in unserem Garten. Lange schon war klar, dass wir uns für Themen unserer Mitmenschen interessierten sollten, wenn wir wirklich in Verbindung treten wollen. Erzählt jemand von seinem Vogel, so erzählt er uns nicht von dem Thema, sondern von sich. Von dem Menschen, den wir wertschätzen.
Arbeit und Konsum
Hanna ist eine der Holz-ExpertInnen der Region und von einer Gruppe von Communitys angestellt, um die Bäume in ihrer Entwicklung zu betreuen. Natürliche Rohstoffe aus der Region bilden inzwischen 95% unseres Bedarfs ab. Zweifel über Verzicht wandelten sich in Zuversicht. Verschiedene Gruppen arbeiten auch zusammen, um komplexere Dinge wie die Kommunikatoren und die Datenbank weiterzuentwickeln. Wir sind nicht komplett renaturalisiert, sondern beides: Die Technik arbeitet für den Menschen. ErfinderInnen bekommen ihren Raum, haben intrinsischen Ehrgeiz, wissen aber auch, was gut für die Welt ist.
Wie ich immer dachte, es wäre erstrebenswert öffentlicher Intellektueller zu sein. Heute sehe ich das als Aufgabe, die ich wahrnehme, weil ich damit helfen kann. Manchmal hätte ich aber gern noch mehr Möglichkeit mich körperlich auszugleichen oder mehr Waldbaden zu machen, wie die Hippie-Gruppe. Ich liebe es aber auch unsere Erkenntnisse transparent zum Austausch zur Verfügung zu stellen.
Unser Konsum ist inzwischen so ausgerichtet, dass Unterpriviligertsein gar nicht erst entsteht. Entnehmen wir der Erde etwas Seltenes, Wertvolles, gibt es inzwischen klare Kompensationsregeln, die die jeweilige Region in ihrer Besonderheit sieht und ihr das zur Verfügung stellt, was die andere Region entbehren kann.
Umwelt
Nachdem Unternehmen, durch die Einführung der Gemeinwohlbilanz, alle externalisierten Kosten eingepreist wurden, entstand ein neues Bewusstsein für alternative Möglichkeiten der Wertschöpfung. Für solche, die “nehmen” und “geben” im Gleichklang denken.
Während die Zeit heute und seit Corona im Flug verging, ist Fliegen heute eines der Luxusgüter. Die meisten Communitys verzichten ganz darauf, weil es in keiner Relation zum Gruppennutzen steht. Die Lufthansa ging in einer der zahlreichen Post-Corona-Krisen endgültig pleite. Die meisten Flugzeuge sind inzwischen geupcycelt.
Zwar schwimmen in unserem großen See, der sich aus der klaren Spree speist, noch immer keine Delfine. Für die Sweetness haben wir aber ganz viele frei laufende Hamster, die einerseits unser Tunnelsystem ausbauen, aber vor allem mit den Kids spielen und für eine gewisse Plüschigkeit im Alltag sorgen.
Die Machtfrage
Diese Alltagsplüschigkeit haben wir alle gewonnen, als wir nicht mehr zwischen den unterschiedlichen Haupt- und Nebenwidersprüchen unterschieden. Als sich Pluralismus durchsetzte, ohne zum Relativismus zu werden. Als wir gemeinsam Macht- und Herrschaft auf ein Minimum reduzierten und dabei solidarisch Rassismus, Sexismus und andere Ungerechtigkeiten zurückdrängen konnten. Denn wir als politische Wesen setzen uns längst nicht mehr nur für uns selbst ein, nehmen uns selbst aber ernst – als politische Einheit.
In dieser plüschigen Einheit aus körperlicher und geistiger Betätigung genieße ich meine Tage. In Kontakt mit Menschen. In voller Möglichkeit, meine Seltsamkeit ausleben zu können – und in Anerkennung dessen, dass das oftmals gar nicht nötig ist. Ich fühl mich doch am besten, wenn ich mit meinen Mitmenschen in resonantem Kontakt stehe.
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