Für Chr. D.: Du verließt diese Welt zu früh.
Ein Essay und Gedankenspiel um erzählerische Aspekte in Anbetracht einer derzeitigen Pandemie. Inspiriert durch Freuds Essays um 1920 über das „Unheimliche“ und den „Wiederholungszwang“. Spannend an Freuds Beobachtungen über menschliches Verhalten und an seinen Spekulationen sind für mich weniger seine psychologisierten, individualistisch-materialistischen Sichtweisen als vielmehr die imaginative Übertreibung und soziokulturelle Übertragung seiner Konzepte auf eine Gesellschaft, betrachtet als lebendige und atmende Figur.
Mich interessieren in diesem Zusammenhang besonders zwei Konzepte aus Freuds Gedankenwelt, die sich zentral um den Umgang mit Ängsten drehen und die ich experimentell als Analogon auf Gesellschaft übertrage. Mit jenen werde ich ein wenig gedanklich spielen: das UNHEIMLICHE und der WIEDERHOLUNGSZWANG. Beide erörterten Prinzipien erklären treffend, wie ‚wir‘ derzeit (nicht) mit ‚unseren‘ Ängsten vor dem Tod, Furcht vor wiederkehrenden Krankheiten und Irritationen (erzählerisch) umgehen, welche die Ereigniskette der Pandemie ausgelöst haben könnte.
Das Unheimliche ist laut Freud zugleich etwas Bekanntes als auch Unbekanntes, das sich seelischer Inhalt im psychischen Gefäß eines Menschen befindet, was sich wiederum beschreiben und ästhetisch erfassen ließe. Als literarisches oder narratives Genre übertragen hätten ‚wir‘ es hier mit dem Grusel oder Schauder und in verstärkter Form mit dem Horror, dem plötzlichen und überraschenden Schrecken, im Leben und/ oder in der Fiktion zu tun. Allerdings trennt Freud als Materialist streng zwischen erlebtem, persönlichem und erfundenem, imaginiertem Grauen. Wichtig in diesem Kontext ist zu verstehen, dass das Unheimliche geheim und verborgen und zugleich ‚uns‘ bekannt vorkommt (heimelig): bereits vor hundert Jahren stellte Freud fest, dass das Adjektiv eine Ambivalenz aufweise. Besteht diese ambivalente Konnotation im Gebrauch des Wortes unheimlich weiterhin? Darf ich es als Umschreibung für die derzeitige Situation überhaupt so nutzen: der neuartige Coronavirus wirkt auf mich unheimlich? Die Formulierung impliziert reflexhaft auch folgende Sätze: Ich bin von der Situation irritiert. Die Bilder der Erkrankten machen mir Angst. Ich fürchte mich davor, dass ich mich mit dem Virus in Gestalt einer abstrakten Gefahr oder andere Personen damit anstecken kann.
Wobei ich hier anders expliziere: irgendwie kenne ich doch diese COVID-19-Situation! Mir kommt das alles irgendwie bekannt und vertraut vor, wie in einer Gespenstergeschichte, die immer wieder erzählt wird. Da spukt es im verwitterten Schloss, und ich möchte mit freudigem Schauder diese abgeschlossene Geschichte von neuem hören!
Interessant hieran ist, dass in Anlehnung an C. G. Jung, der ein kollektives Menschheitsgedächtnis als Axiom postulierte, ‚wir‘ bereits in vielen Geschichten Epidemien und Pandemien und deren Folgen kennen. So gesehen postuliere ich, dass ‚uns‘ die Epidemie in Deutschland und anderswo bekannt sein müsste: in diesem Sinne könnten viele Menschen die ‚Corona-Zeiten‘ als unheimlich wahrnehmen. Leider erfahren einige Menschen diese – noch zu erzählende – Ausnahmesituation als persönliche und wahrhaftige Krise. Doch möchte ich beim Bild einer Gesellschaft als Figur bleiben.
„Das paradox klingende Ergebnis ist, daß in der Dichtung vieles nicht unheimlich ist, was unheimlich wäre, wenn es sich im Leben ereignete, und daß in der Dichtung viele Möglichkeiten bestehen, unheimliche Wirkungen zu erzielen, die fürs Leben wegfallen“ (1).
Gilt diese Trennung zwischen den Wirkungen des Unheimlichen in Fiktion und die im Leben auch für den jetzigen Ausnahmezustand!? Kurz: jein. Die Grenzen zwischen faktualem und fiktionalem Orientierungswissen zu Epidemien und über deren Auswirkungen haben ‚wir‘ hundert Jahre später zuweilen aufgehoben: Diese Erzähl-Stoffe wurden seit 1920 vielfach in der Literatur, im Film und in anderen Wirklichkeitserzählungen als Szenario in Form einer schwerwiegenden Pandemie verhandelt. So gesehen sind wir doch Alltagsexpert:innen im Bezug zur (un-)heimeligen Situation!? Denn Seuchen, die beispielsweise als Zombie-Apokalypsen oder als unsichtbarer Feind in einer pseudo-mittelalterlichen Welt umgedeutet wurden, können bis heute in vielfältiger Weise im Buch, im Film, im Computer- oder im Tischrollenspiel (mit-)erlebt und so erfahren werden. Es gibt in Medien mannigfaltige Bilder oder Szenarien zu imaginierten Virengefahren aus den reellen und imaginativen Welten. Es gibt sogar ein sehr spannendes Brettspiel mit obigen gleichen Namen, welches das Katastrophen-Szenario schlechthin enthält. Durch dieses Brettspiel lernte ich zusammen in der Gruppe, was passiert, wenn sich netzartig mehr als eine Seuche an diversen Orten über die globalisierte der Welt hin verteilten, welche eine vom Menschen hart geprägte Erde ist. Beim ersten Spielversuch scheiterten wir an unserer Ungeduld und zusätzlich an der Spielmechanik.
Nun handelt es sich aber nicht mehr um ein Spiel, sondern um das echte Leben, welches bedroht ist!, werden mir lautstark einige Leser:innen zu Recht entgegenhalten. Das stimmt. Es geht mir in meinem Gedankenspiel nicht um den Virus als Tatsache, sondern um einen Virus als vitales Narrativ, was uns Energie und Mut geben oder nehmen kann, einen sozialen Wandel zu etablieren oder zu hemmen. Bleiben ‚wir‘ in der Bilderlogik und verlassen ‚wir‘ nun die Literalität bezüglich des Wortes unheimlich, um den Wiederholungszwang mit an Bord zu nehmen:
Um 1919/‘20 fing Freud an, die Traumata der Soldaten aus dem 1. Weltkrieg zu reflektieren: seine These ist, dass ‚wir‘ entgegen einer konstruierten Balance zwischen Unlust und Lust (Kurz: Lustprinzip) und deren Dynamik verstoßen, um Angst und angstbesetzte Erinnerungen aus der Vergangenheit hervorzuholen und wieder aufleben zu können. Und das täten Menschen immer und immer wieder und auch häufig zwanghaft. Damals ging er als Arzt von der irrigen Annahme aus, die Traumata und deren Inszenierungen im Klientel wachrütteln zu müssen, um die Therapie erfolgreich und zielorientiert abschließen zu können. Heute stützt die Traumatologie das Gegenargument: in therapeutischen Settings sollten Menschen stabilisiert und für längere Zeit auf gar keinen Fall einen Rückfall (Flashback) erleiden müssen.
Der Wiederholungszwang hat also die Funktion inne, Verdrängtes, Unangenehmes oder angsterfüllte Erfahrungen im Spiel, im Leben, in der Therapie oder in anderen Situationen von neuem wieder zu inszenieren oder gemäß dem erlebten Schema stereotyp handeln zu müssen – trotz und wegen psychischer, innerer Konflikte:
„Das Unbewußte, das heißt das »Verdrängte«, leistet den Bemühungen der Kur überhaupt keinen Widerstand, es strebt ja selbst nichts anderes an, als gegen den auf ihm lastenden Druck zum Bewußtsein oder zur Abfuhr durch die reale Tat durchzudringen“ (2).
Aus meiner Sicht in dem Gedankenspiel verbinde ich beide Prinzipien als das Unheimliche jenseits des Lustprinzip. Es ist das Vergessen des Halbbekannten und die erlebte Ungewissheit in Anbetracht der jetzigen COVID-19-Lage als Frage formuliert: wenn die ‚Corona-Zeiten‘ vorübergezogen sind (d.h. wir uns sozial dem angepasst und es nicht mehr als Ausnahmezustand erleben würden), werden wir jene angsterfüllten Erinnerungen, jene Erfahrungen mit dem unheimlichen Virus aus der kollektiven Teilbewusstheit fortwährend mit genügend narrativer, potenzieller Energie geladen halten, sodass es zu diversen und offenen Erzählungen über die ‚Corona-Zeiten‘ in Gesellschaft, in Gemeinschaften und in Organisationen kommen werden?
Sprich: untersteht ‚unsere‘ Gesellschaft möglicherweise einem erzählerischen Wiederholungszwang über ‚Das unheimliche Virus‘? Oder wird der „dämonische Charakter“ (ebd.) dessen in den Erinnerungen und Auswirkungen zu stark verblassen, sodass er kollektiv verdrängt und ‚wir‘ nach der Zeit weiterhin der großen Narration des beschleunigten Fortschritts folgen werden?
Schärfer formuliert: wird der Virus als das Unheimliche systematisch vergessen wie Influenza, Ebola, MERS oder die Seuche X? Als Erzähler fände ich es wünschenswert und antworte hierauf provokativ: Ja, wenn eine Gesellschaft bildhaft als lebendige Figur verstanden werden darf, dann würde sie dem Wiederholungszwang unterworfen sein, und das wäre eine großartige, erzählerische Herausforderung und zudem eine kleine Chance, im Privaten und im Öffentlichen neue, sozialpolitische Kontrakte für einen gesellschaftlichen Wandeln auszuhandeln!
Allerdings kann es auch zu reflexartigen und stereotypen Erzählungen über Klopapier/ Baumärkte etc. oder zu schematischen Handlungen, wie Klopapier/ Wein kaufen, kommen. Das wäre die Kehrseite des Wiederholungszwanges: das klischeehafte Narrativ (Beispiele: Nous sommes en guerre! (E. Macron), Corona bewirkt eine neue Solidarität, go digital!) kann durch neuartig zusammengesetzte Metaphern erweitert und vielleicht sogar verändert werden, um in einer neueren Erzählung verwoben zu werden?
Doch dem können ‚wir‘ jetzt schon mit metaphorischen Flashforwards entgegensteuern und uns so dem narrativen ‚Trauma‘ (d.h. der imaginativen Begegnung mit dem Tod) zuwenden. Das geschieht mit der Erzähl-Technik der Retrospektive, erzählt vom Standpunkt einer möglichen Zukunft aus:
Weißt du noch damals: da sehnte ich mich nach so viel Körperkontakt wie nie zuvor. Mir gingen die Telkos auf die Eierstöcke/ auf den Sack, denn ich war mega kontaktfreudig und konnte genau das Bedürfnis nicht richtig stillen. Oh Mensch, das war ‘ne krasse Zeit für unsere bunte Familie und als dann noch unser Hund starb… Und dieses  verschissene Homeschooling und Homeoffice, was eigentlich für uns hieß: wer Kinder hat, hat Pech gehabt. Was für ‘n Fuck-Up! Und als Frau* hatte ich das volle Programm.
Oder positiv: Ich habe aus den ‚Corona-Zeiten‘ um 2021 gelernt, dass...
Aber dennoch sollte ein Erzählen nicht zu humorig ausfallen, denn sonst wird die Lage ungenügend emotional erfasst: Hi, ich bin Corinna und harte Influencerin. Mir folgen ‘ne Menge Follower… In diesem Falle wäre der schale Witz eine heftige Distanzierung, eine Verhöhnung der an SARS-CoV-2 verstorbenen Menschen. Mir geht es darum, subjektiv erlebte Geschichten einem interessierten Kollektiv zur Verfügung zu stellen und diese farbenfroh aufzuarbeiten. Nicht als extremes ‚Trauma‘ und auch nicht als Beschönigung gemäß dem Motto: go digital!, sondern als ausgewogene faktualfiktionale, politische Erzählung, an der heterogene Menschen teilnehmen dürfen, um an sichtbare, soziale Verwerfungen in Gesellschaft zu erinnern, emotional lebendig zu halten und um (schluss-) endlich gesellschaftlichen Wandel kontrovers zu diskutieren.
Quellen
1) (S. Freud, Studienausgabe, Band. 4, 2000: 271f.).
2) (S. Freud, Studienausgabe, Band. 3, 2000: 229).

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