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Prognosen haben Konjunktur. Sie zeichnen zukünftige Zustände, malen Bilder, wie die Zukunft sein könnte. Nach der Krise. Kommen wir zurück zu einem Normalzustand? Wird alles anders sein? Ein 'new normal' im Post-Corona-Zeitalter? Welche Anzeichen gibt es, die einen Blick, ein Gefühl, eine prognostische Aussage über die Zukunft erlauben? Gedanklich schließen wir damit bereits Möglichkeiten aus, richten uns mit Trends, Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten ein.
Die Zukunft ist unsicher. Aus der Wissenschaft kommt daher der Vorschlag, von Zukünften zu sprechen. Der Plural als Symbol mehrerer, potentieller Zukünfte. Von gegenwärtigen Zukünften und zukünftigen Gegenwarten wird gesprochen (1). Der Unterschied: Im ersten Fall wird die Gegenwart betrachtet und verfolgt, welche Zukünfte sich aus ihr heraus ergeben können. Im zweiten Fall handelt es sich um die Momentaufnahme einer Gegenwart, die in der Zukunft liegt. In beiden Fällen beginnen wir, uns Geschichten zu erzählen. Gegenwärtige Zukünfte tragen den Umständen Rechnung, dass Zukunft ungewiss und gesellschaftliche Entwicklungen nicht vorhersehbar sind, während es sich bei zukünftigen Gegenwarten um Ziel- und Wunschbilder handelt. Ist im zweiten Fall bereits auf das Zielbild fokussiert, beginnt im ersten Fall eine kontinuierliche Schließung.
Um eine Vorstellung dieser Überlegungen anzubieten, wird für das Denken und Antizipieren von Zukünftigem häufig das Bild eines Trichters verwendet. Dieser Trichter schrumpft zu einem Punkt, wenn prognostiziert wird und öffnet sich in dem Maße, je unbekannter und weniger antizipierbar Entwicklungen werden (2). Innerhalb und außerhalb des Trichters liegen die möglichen Bahnen und Pfade in Zukünfte.
Ein weiterer Schritt ist, diese Pfade zu bewerten. Mögliche, plausible, wünschbare und nicht-wünschenswerte, alternative, utopische und dystopische Zukünfte werden hier sichtbar. Woher kommt diese Bewertung? Wie entsteht der Raum und Rahmen, in dem sich der Trichter, in dem sich die Pfade befinden? Sind es Weltanschauungen oder wissenschaftliche Erkenntnisgrundsätze, die bestimmen, ob eine Zukunft nur möglich ist, als Alternative eingestuft oder gar als plausibel dargestellt wird? Sicher ist, es ist kein sinnleerer Raum.
Wie sprechen, wie denken wir über Alternativen? Sind Alternativen die schlechtere Wahlmöglichkeit zu einer Premiumoption? "Was ist die Alternative zu x, y, z?" Schwingt in dieser Frage das Gefühl mit, wenn die Alternative gewählt würde, schlechter dran zu sein, eine schlechtere Entscheidung getroffen zu haben? Wenn dem so ist, woher kommt diese Konnotation? Ist es eine Prägung durch unsere materiell-konsumorientierte Erfahrung, dass zu einer vermeintlichen  Premiumoption die Alternativen schlechter sind? Vielleicht. Offensichtlich aber hat der Bezugsrahmen, in dem Alternativen entstehen, möglich werden und bewertet werden, einen entscheidenden Einflussfaktor. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass nicht für jede:n die gesetzte Premiumoption die erste Wahl ist. Einige Menschen würden einem karibischen Fünf-Sterne-Urlaub das Campen an der Nordsee allemal vorziehen. Wenn aber das Bezugssystem vorgibt, dass nur die Premiumoption die richtige, die gute Entscheidung sei, wird die Möglichkeit zur eigenmächtigen Entscheidung für die Alternative gehindert. Eine weitere und entscheidende Rolle spielen die Geschichten über unsere Bezugsrahmen.
Leben und Geschichten sind fundamental unterschiedlich (3). Unser Leben, wie es geschieht und die Geschichten, die wir uns selbst ex post über unser Leben erzählen, haben einen entscheidenden Unterschied. Dennoch wenden wir das Geschichten erzählen auf unsere Gegenwart und Zukunft an. Eine Geschichte wird vom Ende her erzählt. Ob Film, Roman oder Comic – die Erzählung und mit ihr das Ende, ist im Vorhinein klar. Das Problem: Leben und gesellschaftliche Entwicklungen in die Zukunft laufen so nicht ab. Im Nachhinein können wir Entwicklungen Sinn geben, Zusammenhänge ausmachen. Im Vorhinein können wir versuchen zu planen, zu antizipieren, zu prognostizieren. Das alles sind Geschichten, die wir uns erzählen. Und der Bezugsrahmen ist die Welt, in der wir sie uns erzählen. Um uns selbst Offenheit für mögliche Entwicklungswege, für Alternativen zu gewähren, brauchen wir andere Welten, andere Bezugsrahmen, in die diese Geschichten passen.
Ein Problem entsteht dann, wenn ein Bezugsrahmen eine Exklusivität beansprucht und keine anderen zulässt. Ist das resilient? Resilienz ist die Fähigkeit eines Systems, sich gegenüber Einflüssen zu behaupten und zu bestehen, die dessen Bestehen gefährden. Assoziationen wie Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Zähigkeit, Elastizität, vielleicht auch Robustheit, Stabilität oder gar Durchsetzungsfähigkeit kommen in den Sinn. Wie wäre es mit Mutation? Der westliche Bezugsrahmen mag in sich bereits sehr anpassungsfähig sein. Die aktuelle Situation zeigt aber auch dessen Anfälligkeit und Schwachstellen auf – ungeachtet der klimatischen Entwicklungen, die nach begründeten Vermutungen noch auf die Welt zukommen können.
Liegt hier nicht ein Potential: Corona als Chance?! Abgewandelte Kopien des Aktuellen zu erschaffen, um zu testen, zu bewerten und zu evaluieren, ob diese Alternativen nicht nur in zivilisatorischen Krisen besser bestehen? Das bedeutet dann ebenso über Innovation wie Exnovation nachdenken zu müssen. Dann kann bewertet werden, was funktioniert und ob möglicherweise der Nordseeurlaub die eigentliche Premiumwahl ist. Dafür ist jedoch die Ebenbürtigkeit der Alternativen und ein Verzicht auf Exklusivität notwendig.
Quellen
In diesen Beitrag spielen mehrere Gedanken ein, die ich in der Vergangenheit gesammelt habe. An zwei Stellen beziehe ich mich konkret auf zwei Texte von Armin Grunwald, dessen Überlegungen meine Sichtweisen maßgeblich beeinflusst haben.

1) Grunwald, A. (2009). Wovon ist die Zukunftsforschung eine Wissenschaft?. In Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung (pp. 25-35). Springer, Berlin, Heidelberg.
2) Grunwald, A. (2015). Die hermeneutische Erweiterung der Technikfolgenabschätzung. TATuP-Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis, 24(2), 65-69.
3) Inspiriert hat mich zum Thema Geschichten erzählen zudem der Beitrag des youtube-Channels Like Stories of Old - The Fundamental Difference Between Stories and
Reality
Ein weiterer Text, der mich motivierte, den vorliegenden Beitrag zu beenden, ist ein Artikel des The Guardian vom 26. April 2020 zum Thema Existential Threat and Risk Assessment mit dem Philosophen Toby Ord, der am Oxford Future of Humanity Institute tätig ist

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