Interview mit Tom Siebertz vom 25. April 2020 zur Situation von Asylsuchenden im Kontext COVID-19, Jurist in der sozialen Beratung im Verein Psychosoziales Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf e. V. arbeitet. Das Interview führte Friedeman Yi-Neumann vom Institut für Ethnologie der Uni Göttingen.
Friedemann Yi-Neumann: Tom, Du arbeitest im Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge Düsseldorf e.V. in der Beratung von Geflüchteten. Kannst Du die generelle Arbeit des Vereins vorstellen?
Tom Siebertz (TS): Das Psychosoziale Zentrum für Flüchtlinge (PSZ) besteht seit 1987 und bietet Geflüchteten aus unterschiedlichen Herkunftsländern (2019: 51 Länder) Beratung und Therapie an. Die Angebote umfassen präventive und niedrigschwellige Maßnahmen, Gruppentherapien, akute Kriseninterventionen, kurzfristige Clearings, psychosoziale Beratung/ Stabilisierung sowie langfristige Psychotherapien. Sie werden in folgenden Sprachen angeboten: Arabisch, Dari, Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Kinyarwanda, Russisch und Türkisch. Darüber hinaus werden bei Bedarf qualifizierte Dolmetscher*innen herangezogen (z.B. für Albanisch, Romanes, Tigrinia, Tamilisch, etc.). Neben der therapeutischen Arbeit mit Klient*innen besteht ein weiteres Tätigkeitsfeld des PSZ in der Erstellung von psychologischen Stellungnahmen und Gutachten zur Vorlage bei Behörden und Gerichten, sowie in der Weiterbildung für verschiedene Berufsgruppen (z.B. im Auftrag der Justizakademie für Richter*innen zu dem Thema „Auswirkung von Traumatisierung auf Aussagefähigkeit“, „Erlebnisfundierung aus klinischer und psychotraumatologischer Sicht“, im Auftrag von Ärztekammern im Bereich „Begutachtung im Asylrecht“ / Curriculum der Bundesärztekammer, für Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen zum Thema „Interkulturelle Kompetenzen“ etc.). Das PSZ Düsseldorf ist Gründungsmitglied der BAFF (Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren) und wird getragen von einem Trägerverein. Daneben ist ein weiterer Tätigkeitsschwerpunkt die transkulturelle Erziehungs- und Familienhilfe. Zudem leistet im kommunalen Auftrag eine Gruppe von muttersprachlichen Stabilierungsbegleiter*innen für das PSZ in den Gemeinschaftsunterkünften niederschwellig Entlastungs- und Stabilisierungsarbeit für besonders belastete Geflüchtete. Insgesamt ist unser in jeder Hinsicht diverses Team auf über 20 Festangestellte, hauptsächlich Therapeut*innen, sowie Sozialarbeiter*innen und Verwaltungsfachkräfte angewachsen.
FYN: Worin besteht Deine Arbeit als unabhängiger juristischer Berater von Asylsuchenden? Wen berätst Du und in welchen Situationen befinden sich diese Menschen im Allgemeinen?
TS: Stabilisierung und Therapie von Geflüchteten ist nicht denkbar, ohne dass ein gewisser sicherer Rahmen garantiert werden kann. Nahezu alle Klient*innen des PSZ befinden sich in einer aufenthaltsrechtlich mehr oder weniger unsicheren Lage, viele haben schon erfolglos ein oder mehrere Asylverfahren durchlaufen, sehen sich verschiedensten Sanktionierungen von Ausländerbehörden oder Sozialämtern ausgesetzt (z. B. Leistungskürzungen, Arbeitsverbot, Residenzpflicht, Druck zur Dokumentenbeschaffung). Viele davon sind ganz konkret von Abschiebung in ihre „Herkunftsländer“ oder von Dublin Überstellungen in andere EU Länder bedroht. Dass ein Großteil unsere Klient*innen in solch schwierigen Lagen sind, liegt auch daran, dass wir die Anfragen an uns danach aussieben, wie sehr unsere Hilfe sowohl therapeutisch aber auch aufenthaltsrechtlich gebraucht wird. Zudem sind spezialisierte Anwält*innen im Aufenthalts- und Asylrecht selten und entsprechend überlaufen und nicht zuletzt die Verschärfungen im Asylbewerberleistungsgesetz haben die Möglichkeiten von Geflüchteten diese auch nur in Raten bezahlen zu können weiter dramatisch eingeschränkt (Stichwort: Sachleistungsprinzip mit nur geringem Taschengeld). Deshalb hat das PSZ schon immer ein extra Team von Asylverfahrensberater*innen zur Unterstützung des therapeutischen Teams gehabt, was nun seit zwei Jahren durch mich als Jurist ergänzt wurde. Ich berate schwerpunktmäßig eigene Klient*innen, aber im Rahmen meiner Kapazitäten beantworte ich auch die zahlreichen externen Anfragen von Ehrenamtlichen, anderen Beratungsstellen, Freund*innen von Klient*innen aus deren Communities. Zudem stehe ich für Fragen des gesamten Teams zur Verfügung, mache regelmäßig interne und externe Fortbildungen rund ums Asyl- und Aufenthaltsrecht. In den Fällen, in denen Anwält*innen involviert sind, kooperiere ich mit diesen. Häufig arbeite ich auch an der Schnittstelle zwischen Therapie und Recht, indem ich die Stellungnahmen und Gutachten von Kolleg*innen für das BAMF, die Ausländerbehörden und die Gerichte mit den Therapeut*innen durchgehe, um die für die rechtliche Beurteilung relevanten Punkte für Jurist*innen und Behördenmitarbeiter*innen verständlich zu machen. Die Ratsuchenden befinden sich in allen möglichen Situationen und Verfahrensstadien, von frisch nach Deutschland Eingereisten, über Menschen, die bereits hier oder in anderen EU Ländern erfolglos Asylverfahren durchlaufen haben, aber auch Solche, die schon seit Jahren in prekären aufenthaltsrechtlichen Situationen leben und ich danach schaue inwiefern eine Legalisierung und Verfestigung ihrer Situation möglich sein kann. Entsprechend lebt ein Teil noch in Landesunterkünften (insbesondere Dublin-Fälle und Menschen aus als sicher erklärten „Herkunftsländern“ werden in NRW schon seit Jahren dauerhaft in diesen Lagern festgehalten; mittlerweile werden aber seit letztem Jahr auch darüber hinaus für fast alle Neuankommenden die Zeiten in den Landesunterkünften maximal ausgeschöpft. Nach dem Willen der nordrhein-westfälischen Landesregierung möglichst bis zu deren Abschiebung), andere in kommunalen Gemeinschaftsunterkünften oder schon in eigenen Wohnungen.
FYN: Auf welche Art und Weise betrifft die aktuelle Lage Menschen in Aufnahmeeinrichtungen? Mit welchen (verschärften) Problemen sind Geflüchtete durch die Situation mit COVID-19, aus Deiner Perspektive, konfrontiert?
TS: Die Lage von Geflüchteten in jeder Form von Gemeinschaftsunterkunft widerspricht diametral allen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus, wie sie eigentlich zum Schutz aller Menschen gelten. In der Mehrzahl schlafen die Menschen in Mehrbettzimmern, es stehen nur etagenweise Gemeinschaftsbäder und Toiletten in meist desolatem hygienischem Zustand zur Verfügung. Es gibt keine separaten Kochmöglichkeiten und alle Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen. Desinfektionsmittel steht zudem nach Informationen der meisten meiner Klient*innen allenfalls an den Ausgängen der Einrichtungen bereit, Masken gibt es überhaupt nicht.
Wir und andere Unterstützer*innen haben deshalb seit Beginn der Maßnahmen die nordrhein-westfälische Landesregierung und Kommunen aufgefordert, aus den Unterkünften schnellstmöglich zu verteilen, zumindest besondere Risikogruppen. So wäre etwa die Unterbringung in leer stehenden Hotels und Pensionen und den akut in ihrem Erhalt gefährdeten Jugendherbergen eine gute Möglichkeit, weil dort pro Zimmer eigene Sanitäranlagen zur Verfügung stünden. Zudem dürften sich die Besitzer*innen in ihrer Corona-bedingt prekären Lage leicht davon überzeugen lassen, so ihren Betrieb aufrechterhalten zu können. Wochenlang reagierte die Landesregierung gar nicht. Es wurde nur nebulös davon geredet, sie seien dabei, andere Liegenschaften für die Auslagerung von Risikogruppen vorzubereiten. Bis heute ist keine dieser Einrichtungen einsatzbereit. In mindestens drei Gemeinschaftsunterkünften auf Landesebene allein in NRW und in mehreren kommunalen Unterkünften allein in Düsseldorf (von anderen Städten weiß ich es schlicht nicht) sind mittlerweile offizielle Corona-Fälle aufgetreten, in einigen so viele, dass die gesamte Einrichtung unter Quarantäne gestellt wurde. Die Situation in den Lagern eingesperrt zu sein, ist besonders für Menschen mit traumatischen Hafterfahrungen unerträglich. Tatsächlich wurden sogar einige Geflüchtete als Quarantäne-Maßnahme in der Abschiebehaftanstalt Büren nach dem Infektionsschutzgesetz buchstäblich inhaftiert. Diese Möglichkeit der Inhaftierung ist zwar als letztes Seuchenschutz-Mittel möglich, wird aber normalerweise in Krankenhäusern durchgeführt, wo auch die medizinische Versorgung sichergestellt ist. Das ist in einer Haftanstalt offensichtlich nicht der Fall, zusammen mit den offensichtlichen negativen Auswirkungen einer schuldlosen Inhaftnahme. Zudem ist die Betreuung in den Unterkünften auf ein Minimum zurückgefahren, weil viele Mitarbeiter*innen der Unterkünfte nicht mehr vor Ort arbeiten. Spannungen, Streits und weitgehend unbeobachtete Räume sind die Folge, was besonders vulnerable Gruppen wie Frauen*, Kinder und LGTBIQ besonders gefährdet. Zu allem Überfluss füllen sich die Lager in NRW gerade, weil die Landesregierung seit Mitte März, gerade mit dem Ziel Corona nicht weiter zu verbreiten, niemand mehr den Kommunen zuweist. Ein weiterer Skandal ist, dass Abschiebungen und vorbereitende Maßnahmen hierfür, keineswegs wegen Corona eingestellt wurden und diese Maßnahmen weitestgehend unbeobachtet stattfinden können, weil wie gesagt die Beratungsstrukturen und der Zugang zu Anwält*innen wegen der Corona Maßnahmen erheblich eingeschränkt sind.
FYN: Auf welche Art und Weise hat sich die Arbeit Eures Teams und die Umsetzung deines Arbeitsauftrags seit dem Lock down im März 2020 verändert?
TS: Unser Zentrum ist nur noch für akute Notfälle (z. B. suizidale Klient*innen) und nicht mehr für den Publikumsverkehr offen. Die Corona Schutzmaßnahmen erschweren zudem jede Therapie, die maßgeblich auch von Kontaktmöglichkeiten abhängt. Der Großteil unserer Arbeit ist auf Videokonferenz und Telefon von zu Hause umgestellt. Der Zugang zu Klient*innen, insbesondere bei denen wegen Sprachbarrieren kein direktes Telefongespräch möglich ist, ist sehr erschwert.
FYN: Worin bestehen aus Deiner Sicht diesbezüglich die drängendsten Probleme?
TS: Termine mit Dolmetscher*innen sind extrem erschwert, datenschutzrechtliche Probleme bei intimen Therapie Gesprächen kommen hinzu, auch, dass vielen Klient*innen kein geschützter Raum zur Kommunikation zur Verfügung steht, häufig scheitert es schon an stabilen W-LAN Möglichkeiten. Viele Geflüchtete werden so immer weiter isoliert, verlässliche Information zu COVID-19 und geeigneten Schutzmaßnahmen auf allen Sprachen sind immer noch nicht überall verfügbar.
FYN: Auf welche Umstände können im Moment nur schwer professionelle und zivilgesellschaftliche Antworten gefunden werden?
TS: Ein Normalbetrieb ist auf absehbare Zeit nicht möglich, besonders wegen des Risikos von Menschen aus Gemeinschaftsunterkünften, sich auf dem Weg zu uns oder bei uns anzustecken. Das lässt sich eindämmen aber nicht auflösen.
FYN: Ohne einen Blick in die Kristallkugel zu forcieren, was denkst Du wie wird sich die Arbeit Deines Vereins in den kommenden Monaten entwickeln und wie seid ihr strukturellen dafür aufgestellt?
TS: Wir sind laufend darüber in Kontakt, wie wir langsam wieder den normalen Betrieb mit allen nötigen Vorsichtsmaßnahmen aufnehmen können. Wir haben schnell digitale Möglichkeiten für Therapie und Beratung gefunden, die bei allen Defiziten doch auch in Zukunft die Kontinuität unserer Arbeit ermöglichen.
FYN: Was wären aus Eurer/ bzw. Deiner Sicht adäquate politische und zivilgesellschaftliche Antworten auf die Situation von Asylsuchenden in Zeiten von Corona?
TS: Zunächst müssten alle Gemeinschaftsunterkünfte möglichst entzerrt und die Menschen möglichst in quarantänefähigen Kleingruppen mit eigener Kochmöglichkeit und Sanitäranlagen dezentral untergebracht werden, damit es ihnen genauso möglich ist, sich vor Ansteckung zu schützen, wie allen anderen auch. Neben den offensichtlichen Gefahren, schüren Unterkünfte als vermeintliche Brutstätten des Virus mit Sicherheit, Ressentiments und Ängste in der Gesellschaft, gegenüber Menschen, die potenziell als Geflüchtete identifiziert werden. Daher sollten konsequent alle Möglichkeiten unbürokratisch ausgeschöpft werden, wie es ja auch für den Rest der Gesellschaft gerade möglich gemacht wird. Dann müsste mit einem vorübergehenden Abschiebungsmoratorium angemessen darauf reagiert werden, dass gerade jede Art von Abschiebung in Anbetracht der Verhinderung von Ansteckung und weltweitem Ausbreiten des Virus sich moralisch verbietet. Hinzu kommt, dass bei der Lage in vielen Herkunftsländern eine Ansteckung mit dem Virus eine weit größere Gefahr darstellt, als hier mit der zur Verfügung stehenden medizinischen Versorgung. Aufenthalte sollten großzügig verlängert werden, ein fairer Umgang mit dem Wegfall von Aufenthaltsperspektiven, die Corona-bedingt weggefallen sind, sollte gefunden werden (z. B. angesichts eines massenhaften Jobverlusts, gerade im Billiglohn- und Zeitarbeit-Sektor, wo viele Betroffene vor der Krise gearbeitet haben; Unmöglichkeit von Passbeschaffungen/Identitätsklärungen, da alle Botschaften /Konsulate geschlossen sind.
Darüber hinaus muss die Chance genutzt werden, dass durch Corona die eklatanten Ungerechtigkeiten unserer Welt offensichtlich werden und globale Problem nur gemeinsam solidarisch zu lösen sind. Darauf müssen gemeinsame und globale Antworten gefunden werden.
FYN: Was kann jede*r Einzelne dafür tun?
TS: Wachsam bleiben und sich für die Situation von anderen interessieren, die von Corona sehr viel härter betroffen sind, als der Durchschnitts-Deutsche. Jede Form von praktischer und gemeinschaftlicher Solidarität, Jobs vermitteln, Sprache beibringen, Kontakt halten, Termine bei Ärzt*innen organisieren, Schulkindern in irgendeiner Form zu helfen die nur noch digital übermittelten Aufgaben zu bewältigen, weil ihre Eltern ihnen dabei idR nicht helfen können, die Liste ließe sich noch lange fortführen.
FYN: Wie kann man Euch unterstützen?
TS: Wir finanzieren uns zum Großteil über Projektmittel, die einen immer größeren Eigenanteil erfordern, welcher fast nur über Spenden generierbar ist. Unsere finanzielle Lage ist deshalb dauerhaft prekär. Spenden ist also in jedem Fall sinnvoll:). Ehrenamtliche Unterstützung, insbesondere auch aus den Communities selbst heraus, wodurch Kontakt zu zunehmend isolierten Geflüchteten gehalten werden kann insbesondere in den Landesunterkünften.
Außerdem ist es wichtig, den Druck auf die Politik aufrecht zu erhalten, an allen Stellen und in jeder Form ist dies immer sinnvoll, besonders wenn plötzlich scheinbar nur noch das Thema COVID-19 die öffentlichen Debatten dominiert.
Außerdem ist es wichtig, den Druck auf die Politik aufrecht zu erhalten, an allen Stellen und in jeder Form ist dies immer sinnvoll, besonders wenn plötzlich scheinbar nur noch das Thema COVID-19 die öffentlichen Debatten dominiert.
FYN: TS, ich danke für dieses Gespräch und wünsche Eurem Team alles Gute für Eure weitere Arbeit!