TRIGGER WARNUNG Islamfeindliche / rassistische Gewalt
Es war Burkhardt schon immer scheißegal, ob er von irgendwelchen random Leuten in der U-Bahn Mund und Nase sehen konnte oder nicht. Die „Burka-Debatte“ bringt seinen Puls nur deshalb auf 180, weil er hierdurch seine Islamfeindlichkeit rechtfertigen konnte – und darin von oberster politischer Ebene ausdrücklich bestärkt wurde. Dass Gesichtsverschleierung im Zuge der COVID-19-Pandemie nun die „neue Normalität“ ist, enttarnt die „Burka-Diskussion“ endgültig als Inszenierung eines Kulturkampfs zur Legitimation islamophober Ressentiments und zur Festigung des institutionalisierten Rassismus in Deutschland. Fangen wir nun endlich an, über strukturelle Diskriminierung zu reden, anstatt weiterhin ein Stück Stoff zum Zentrum politischer Reden und jeder zweiten Talkshow zu machen?
Vor ziemlich genau drei Jahren sorgte der damalige Innenminister Thomas de Maizière mit seinem kruden Manifest zur vermeintlichen deutschen Leitkultur inklusive dem catchy Slogan "Wir sind nicht Burka" für Furore. In diesem deklarierte er unter anderem:
„Wir geben uns zur Be­grü­ßung die Hand. Bei De­mons­tra­tio­nen haben wir ein Ver­mum­mungs­ver­bot. "Ge­sicht zei­gen" – das ist Aus­druck un­se­res de­mo­kra­ti­schen Mit­ein­an­ders. Im All­tag ist es für uns von Be­deu­tung, ob wir bei un­se­ren Ge­sprächs­part­nern in ein freund­li­ches oder ein trau­ri­ges Ge­sicht bli­cken. Wir sind eine of­fe­ne Ge­sell­schaft. Wir zei­gen unser Ge­sicht. Wir sind nicht Burka.“
Mit dem letzten Zusatz macht der CDUler hier auch dem Gutgläubigsten unmissverständlich klar, dass die ganze Debatte um das sogenannte „Verschleierungsverbot“ natürlich nicht auf Alman-Achim, der bei minus 10 Grad mal seinen Schal über Mund und Nase zieht, abzielt, sondern dass es ausdrücklich um den gesellschaftlichen Ausschluss von Muslima mit Niqab oder Burka geht. (Hierbei sei angemerkt, dass die Diskussion stets nicht nur um die Burka, sondern auch um den fälschlicherweise oft als „Burka“ bezeichneten Niqab kreist.)
Die tatsächliche Zahl der „vollverschleierten“ Muslima in Deutschland ist verschwindend gering. Indem der Innenminister dies dennoch zu einem derartigen Thema seines Germany-Pamphlets macht, gießt er sehenden Auges Öl ins Feuer des zunehmend unverhohlener werdenden Rechtsradikalismus in Deutschland.
Fast forward to a few years later: Wir haben eine globale Pandemie. Zum Schutz anderer und unserer selbst ist es oberstes Gebot, sich nicht die Hand zu geben und Mund und Nase zu bedecken. Was is nu mit unserer Leitkultur? Sind wir jetzt alle ein bisschen weniger deutsch geworden, weil wir uns nicht mehr die Hand geben und in der Öffentlichkeit einen Teil unseres Gesichts bedecken? Als ich vorm Spiegel meinen Mundschutz anziehe, höre ich schon die AfD-Brudis lautstark meinen Rausschmiss aus der Deutschland-Clique fordern, weil ich mich nicht integriere. But wait, die Brudis verschleiern plötzlich selbst ihr Gesicht. Was machen wir denn nun mit denen? Raus aus Deutschland oder wie?
Vielerorts wird derzeit darüber diskutiert und spekuliert, was wir für unser zukünftiges Zusammenleben aus den Erfahrungen der Corona-Krise mitnehmen werden. Neben vielen anderen relevanten Erkenntnissen hoffentlich auch die Einsicht, dass die viel geforderte und in mehreren europäischen Ländern realisierte Kriminalisierung von Niqab und Burka nie eine zwingende Notwendigkeit für demokratisches Miteinander war. Sie diente auch nie dem Schutz der "westlichen Weltoffenheit" (wait whut?) oder gar der Befreiung der armen unterdrückten Muslima. Wer eine Muslima für das Tragen ihres Niqab kriminalisiert und bestraft, befreit diese nicht von vermeintlicher Unterdrückung, sondern verdrängt sie gewaltsam aus dem öffentlichen Raum. Tatsächlich ist diese in einigen Staaten gesetzlich forcierte Kleidungsvorschrift nicht mit den persönlichen Freiheitsrechten und dem Recht auf freie Religionsausübung vereinbar, wie Amnesty International bereits 2015 kritisierte. In einem Statement hierzu schreibt die Menschenrechtsorganisation:
„Amnesty International [bezieht] klar Stellung, wenn die «Burka» instrumentalisiert wird, um im Namen der Menschen- und Frauenrechte bestimmte Bevölkerungsgruppen und Religionsgemeinschaften zu stigmatisieren oder fremdenfeindliche und islamfeindliche Ängste zu schüren.“
Tagesspiegel-Journalist Jost Müller-Neuhof kommentiert im Hinblick auf die Einführung der Maskenpflicht dieser Tage sehr treffend: „Der Kampf gegen Schleier und Burka macht Pause. So wichtig scheint es nicht zu sein, dass Gesichter immer sichtbar sind.“ Weiter bezeichnet er den drastischen shift vom Verhüllungsverbot zum Verhüllungsgebot und der damit einhergehenden Demontage jeglicher Rechtfertigungsversuche eines „Burka-Verbots“ als „Gesichtsverlust“ des deutschen Staates.
Neben der Unvereinbarkeit eines „Burka-Verbots“ mit den Menschenrechten ist also, wie bereits angedeutet, ein weiteres großes Problem, dass das Streitthema Gesichtsschleier vorgeschoben wird, um den Islam allgemein abzuwerten und den Hass auf Muslime zu befeuern. Nina Mühe, Leiterin von Claim, einem Projekt gegen Islamfeindlichkeit, beobachtet eine Enthemmung in der deutschen Gesellschaft, rassistisches und antimuslimisches Gedankengut offen zur Schau zu stellen. Sie erläutert: „Das hat auch etwas mit den abwertenden Äußerungen über den Islam auf politischer Ebene zu tun. Viele sehen sich bestätigt darin, Muslime als verachtenswert anzusehen.“
Diese Enthemmung äußert sich in der steigenden Anzahl von Hate Crimes gegen muslimische Einrichtungen und Repräsentant*innen. 2019 wurde in Deutschland jeden zweiten Tag ein Angriff auf eben solche verübt. Und das sind nur die offiziell erfassten Zahlen.
Muslimische Frauen, die durch das Tragen eines Kopftuchs (Hijab) schnell als solche zu identifizieren sind, sind dabei besonders häufig von islamfeindlicher und rassistischer Gewalt betroffen. Dinah Riese recherchierte und verfasste zu diesem Thema vergangenes Jahr einen Artikel für die taz. In diesem schreibt sie über Frauen und Mädchen, die auf Grund ihres Hijabs rassistisch beschimpft und auf offener Straße getreten und geschlagen wurden, denen von wildfremden Passant*innen das Kopftuch heruntergerissen und ins Gesicht gespuckt wurde. Allein in Berlin wurde letztes Jahr eine schwangere Frau wegen ihres Hijabs in den Bauch geboxt, zwei Teenagerinnen (15 und 16 Jahre alt) wurden von einem Rassisten krankenhausreif geschlagen, ein erst zwölfjährigen Mädchen wurde von einer Fremden attackiert, welche an ihrem Hijab zerrte, sie dabei beschimpfte, bedrohte und körperlich angriff.
76 Prozent der verbalen und körperlichen Gewaltdiskriminierungen im Bereich Öffentlichkeit und Freizeit werden von Frauen berichtet, die Kopftuch tragen. Diese Zahlen gab die Antidiskriminierungsstelle des Bundes Anfang diesen Jahres auf Anfrage der Partei DIE LINKE heraus. „Das ist offenbar die Folge der jahrelangen stigmatisierenden Debatten in den Medien über Frauen mit muslimischen Kopftüchern und den Islam“, wird von der Linken geschlussfolgert.
Der Streit um Schleier und Burka macht während der Coronakrise Pause. Keine Pause machen jedoch die Früchte, die er trägt. Inmitten der Krise trifft die Meldung, das BKA gehe bei dem rechtsextremen Terroranschlag von Hanau im Februar diesen Jahres nicht von einer rassistisch motivierten Tat aus, Angehörige der Opfer und alle, die sich mit ihnen solidarisieren, wie ein weiterer Schlag ins Gesicht.
Verschleiert wird durch das offizielle Vorschieben scheinheiliger concerns wegen Burka & Co. vor allem der strukturelle antimuslimische Rassismus gepaart mit dem patriarchalen Drang nach Kontrolle weiblicher Körper. Was wir statt solcher Ablenkungsmanöver wirklich brauchen, ist eine längst überfällige schonungslose Auseinandersetzung mit Rassismus, Islamfeindlichkeit und Rechtsextremismus in Deutschland.
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