Dis(s)claimer: Ich will mit den folgenden Beobachtungen niemanden angreifen oder diskreditieren, niemandem ihr Recht auf selbstverantwortliches Handeln und die daraus resultierende Gestaltung ihrer Leben absprechen oder madig machen. Was folgt, sind meine Beobachtungen und einige Schlüsse, die ich für mich, teilweise überspitzt, daraus ziehe. Noch sehe ich nichts wirklich Hoffnungsvolles darin, aber warten wir mal bis zum Ende des Textes.
Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich zum Teil wütend, zum Teil irritiert und ziemlich traurig. Kurze Einführung meiner Person: Als Covid-19 von Italien nach Deutschland reiste und sich dort langsam immer lauter bemerkbar machte, befand ich mich gerade in einem stationären Klinikaufenthalt, um zu versuchen mich aus dem Würgegriff meiner ersten Depression zu befreien. Hat in Ansätzen funktioniert. Als die Pandemie sich mitsamt bundesweiten Kontaktbeschränkungen in vollem Gange befand, fand ich mich – frisch entlassen – als Verkäuferin in einer von vielen Menschen sehr geschätzten Gärtnerei in Norddeutschland hinter dem Verkaufstresen als Verkäuferin wieder. Ich finde es nach wie vor etwas befremdlich, dass ich quasi das Glück hatte, in einer für viele derart existenzbedrohenden Zeit in einem offenbar systemrelevanten Job ANZUFANGEN.
Was mich in den ersten Tagen dort auch verwirrte, war die Art, wie Kund*innen als auch Kolleg*innen sich beim aneinander Vorbeigehen voneinander wegdrehten und versuchten, so wenig wie möglich in jeglichen Kontakt zu gehen. Blickkontakt eingeschlossen. Auf die erste Verwirrtheit folgte ein Gefühl von: Cool, die Leute haben richtig Respekt füreinander und wollen so wenig wie nur irgendwie geht zu einer Verbreitung des Virus beitragen. Auf meinem Beobachtungsposten hinter der Kasse erschloss sich mir nach einigen detaillierteren Betrachtungen der Verhaltensweisen der Menschen leider schnell ein anderes Bild. Mir drängte sich der Eindruck auf, dass die meisten Menschen anderen Artgenoss*innen mit Argwohn begegneten und froh waren, das nun endlich so richtig ausleben zu können. Sich demonstrativ wegdrehen und ja niemanden anschauen. Schön nur ihr eigenes Ding machen und allen anderen mit Misstrauen begegnen. Und das jetzt sogar gesellschaftlich komplett akzeptiert und für gut befunden! Ein Traum für Eigenheim-mit-Garten-und-Zaun-Fetischist*innen. Solidarität zeigen durch sich NICHT begegnen, NICHT miteinander in Kontakt zu gehen (niemand hat je behauptet, das Virus würde durch Blickkontakt übertragen). So leicht war es noch nie, sich solidarisch zu verhalten. Deshalb ist es jetzt auch extrem wichtig, sich das ganz groß auf die Fahne zu schreiben und sich deshalb so richtig gut zu fühlen in seinem/ihrem gut eingerichteten Leben, das ja sowieso niemanden was angeht.
Doch natürlich ist diese Interpretation nicht die einzige Lesart. Gleichzeitig wurde mir durch die Abstandsregelung das ziemlich kontingente Machtverhältnis zwischen Kund*in und Verkäufer*in bewusst: Dadurch, dass sich alle, und zwar ausnahmslos alle, an den Mindestabstand von 1,5 m zu halten haben hatte ich als Verkäuferin plötzlich ein ziemlich großes (Macht-)Wörtchen mitzureden, wenn es um den Umgang von Kund*innen mit mir ging. Ich konnte, durfte und sollte sagen: Bitte halten Sie Abstand von mir, bitte räumen Sie Ihre Ware in den dafür vorgesehenen Korb und knallen sie mir nicht einfach auf den Tresen, als wäre ich das einzige lästige Subjekt, was Sie vom Besitz ihrer zukünftigen Güter trennt… Nein, ich konnte jetzt – gesellschaftlich voll akzeptiert – den Menschen genau sagen, wie ich mir Ihren Umgang mit mir und der Tätigkeit, die ich quasi für sie ausübe, vorstelle. Und das ist mal ein ordentlicher Machtzugewinn für den Status der Verkäufer*in. Denn diese übergeordnete Regelung stellt uns auf einmal alle auf die gleiche Stufe, wo wir alle aufeinander Acht geben. Da ist sie ja, die positive Wendung der Krise.
Eine zweite Beobachtung dreht sich ebenfalls um die Abstandsregelung, oder eher um ihre Metamorphose. Drei Wochen im Gärtnereiverkauf waren vergangen, ich hatte mich an meinen neuen Hoheitsschutzraum gewöhnt. Wenn Kund*innen mir eine Frage stellten, hielten sie Abstand, mein Raum gehörte mir und ihr Raum gehörte ihnen. Ein ganz neues Gefühl von Sicherheit, von dem ich vorher nicht mal wusste, dass es existierte, beziehungsweise dass es mir Entspanntheit und Selbstbestimmtheit bei der Arbeit geben könnte. Doch kaum hatte ich mich an diese neue Art von Freiheit gewöhnt, wurde die Maskenpflicht eingeführt. An dieser Stelle ist es im Prinzip egal, wie sinnvoll das Tragen einer Bedeckung von Mund und Nase gegen die Virusausbreitung ist oder wie unsinnvoll viele Menschen das Tragen ihrer Masken handhaben. Was nämlich auch geschah war, dass der in kurzer Zeit so schön etablierte Abstand einfach in sich zusammenfiel. Ich hatte und habe das Gefühl, als rückten mir die Kund*innen derart auf die Pelle, seit sie Masken tragen müssen, dass es mich fast in meiner körperlichen Unversehrtheit stört und ich es als extrem respektlos empfinde, wenn mir quasi Fremde so nah kommen. Dieses Gefühl hätte ich ohne die vorherigen Abstandsregelungen nie in solcher Deutlichkeit gespürt.
Zusammengefasst werden könnten diese sehr subjektiven Reflexionen aus den letzten Woche der Absurditäten, fragwürdigen, richtigen, unbewussten und falschen Handlungen folgendermaßen: Physischen und sozialen Raum für jede*n Einzelne*n lassen und geben kann sehr wohltuend sein. Das Schönste daran ist vielleicht, dass es immer wieder verhandelt werden kann und muss. Und das eine Neugestaltung sehr wohl möglich ist, haben wir alle schon längst bewiesen.
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