„Wie lange dauert Corona noch?“, fragt meine fast fünfjährige Tochter und spricht aus, was viele besorgt: auch die kleinen und kleinsten Menschen unserer Gesellschaft haben ein sehr genaues Gefühl dafür, was ihnen fehlt (z.B. ihre Freunde) und was sie sich wünschen: zurück in den Alltag, in die Kita, auf den Spielplatz. Vielen Erwachsenen geht es genauso. Vor allem denjenigen, die um ihre berufliche Existenz bangen und denjenigen Familien, die auch ohne Corona nicht ohne Unterstützung von außen zurecht kommen.
Corona zwingt uns im Augenblick zu leben, weil wir nicht wissen, was morgen bzw. in zwei Wochen ist. Es ist wie Entschleungigung per Dekret. Und für viele nur schwer auszuhalten. Gerade für die, die in Not sind.
Allen anderen aber gibt die Situation (auch) die Möglichkeit darüber nachzudenken, dass alles ganz anders sein könnte. Für uns persönlich und für uns als Staaten- bzw. Weltgemeinschaft. Corona hält ein Brennglas auf das, was ist, was wir haben, was wir sind.
Denn während wir davon reden, die Infektionskurve flach zu halten, ist unsere gesellschaftliche Lernkurve gerade extrem hoch. Hätte sich nur ein einzelner unter uns vor zwei Monaten denken können, dass wir heute mit selbst genähten Gesichtsmasken durch die Straßen und Supermärkte laufen? Und dass das nicht komisch wirkt, sondern irgendwie auch cool. Die Sehnsucht nach einem Wir-Gefühl scheint groß. Die Sehnsucht, gemeinsam für etwas Gutes einzustehen. Endlich etwas tun können. Etwas, das alle sehen und das uns zeigt, dass wir einem immer größer werdenden Kollektiv angehören. Ein gemeinsames Abenteuer, bei dem Millionen mitmachen. Die Maske als sichtbarer Ausdruck von Solidarität, nachdem wir jetzt so lange die Füße still gehalten haben. Wer hätte das gedacht?
Die wichtigste Übersetzungsleistung, die wir jetzt vor uns haben, ist für diese Sehnsucht nach kollektiver Selbstwirksamkeit equivalente Mittel für die eigentliche Krise unserer Zeit zu finden. Und sie bitte schön mit gleicher Rigorosität und ebenfalls im Zeitraffer unter die Leute zu bringen. Als Gebot oder Gesetz. Eben so, wie es Not tut, damit es die gleiche drastische Wirkung zeigt. Damit die Kurve sichtbar flach, also sehr flach gehalten wird. Damit nicht mehr Gletscher schmelzen, noch mehr Landstriche untergehen, noch mehr Menschen durch Dürre ihre Lebensgrundlage verlieren.
Eigentlich sind das jetzt eingeübte Mittel:
Keine Flüge mehr für Strecken, die nicht auch mit anderen Verkehrsmitteln erreicht werden können bzw. für deren Zweck nicht auch eine Telefon- bzw. Videokonferenz ausreicht.
Keine Autos in den Städten (was sind das für schöne Fahrradtouren durch Berlin, ohne das Slalom um die viel zu vielen und viel zu großen Autos! Was ist das für ein enormer Zugewinn an Lebensqualität!).
Ein reduziertes Warenangebot und die Erkenntnis: Weniger ist auch ok, oder vielleicht sogar viel genug. Wir haben den Klopapier-, den Mehl- und Hefeengpass überlebt und werden jetzt auch den Gummizugausverkauf überstehen und dadurch weder in schlimmste Depressionen verfallen oder daran Zugrunde gehen.
Gelebte Solidarität (fast in jedem Hauseingang hängen die Zettel für Einkaufsdienste in der Nachbarschaft, Supermärkte und Lieferdienste danken auf Großplakaten ihren Mitarbeiter*innen, laut ist der Ruf nach angemessener Bezahlung für eben diese). Irgendwie hat es irgendwer ja hinbekommen, dass dem Sommer 2015, mit seiner riesen Solidaritätswelle ein komischer Nachgeschmack anhaftet. Jetzt aber setzt sich fort, was nie weg war: helfen, etwas geben können, ist das größte Gut, das wir haben. Und kaum tut sich (wieder) eine Möglichkeit auf, sind wir mit erstaunlicher Freude dabei. Ein großer Denkzettel denen, die immer nur vom Schlechten im Menschen ausgehen und dadurch den Nährboden schaffen für menschenverachtende Meinungen und Politik.
Politische Entscheider*innen, die ihre Entscheidungen von interdisziplinärer wissenschaftlicher Beratung abhängig machen und die wirtschaftliche Gewinnmaximierung erstmal warten lassen.
Kann das bitte eine sich verstetigende Fortsetzung für die Zukunft sein? Politiker*innen, die Gesetze erlassen, weil führende Klimaforscher*innen mit am Verhandlungstisch sitzen? Politiker*innen, die uns loben, dafür, dass wir ihre, auf Solidarität ausgelegten Maßnahmen befolgen. Können wir uns das bewahren? Können wir Politiker*innen haben, die uns genauso strikt und alternativlos durch die notwendigen Maßnahmen zur Vermeidung des Klimakollaps manövrieren? Kann bitte der Kampf für das Bienensummen und den Erhalt des Regenwalds ebenso große Handlungspriorität erlangen, wie das Aufrüsten der Intensivstationen? Kann Klimasolidarität bitte genauso cool sein wie das Tragen von Coronamasken?! Ich wäre dann gern eine Klimachirurgin, die täglich ihre verschwitze Maske vom zufriedenen Gesicht reißt, weil wieder eine Operation ganz hervorragend gelaufen ist!
Viele behaupten ja, die Klimakrise sei zu abstrakt und Corona eben eine sehr konkrete Bedrohung. Ich finde die Klimakrise jetzt schon sehr konkret. Und auch hier haben wir uns in kürzester an Zustände gewöhnt, die vor drei (!) Jahren noch nicht denkbar waren: Die 50er Sonnencreme hat die 30er ersetzt. Die Erde zerfällt schon im März zu Staub und Gemüseanbau auf dauerbewässerten Ackerflächen ist kein abstraktes Szenario einzelner Wüstenstaaten mehr. Das ist hier. Das ist real und konkret. Und was wir hier erleben, hilft zu verstehen, was in viel heißeren, viel ärmeren Ländern passiert. Und dass es auch praktisch keinen Sinn mehr hat dieses Problem auszulagern und auf Kosten anderer unseren Lebensstil, der ein Vielfaches mehr an Ackerflächen verlangt, als wir in Deutschland bewirtschaften können, zu pflegen. Dieser Lebensstil trägt aktiv dazu bei, dass immer mehr Menschen vor unserer Haustüre stehen werden und um Asyl bitten. Klimaflüchtlinge nennt man das und findet es immer noch abstrakt. Dabei könnte es konkreter kaum sein.
Es ist alles da. Jetzt ist es an uns dieses Abenteuer möglich zu machen! Und wir haben gesehen, zu was wir alle fähig sind und was wir noch aus den widrigsten Umständen herausholen können.
Können wir bitte ungeachtet aller Verluste – die wir sehr gut verkraften werden – und unter Berücksichtigung aller erforderlicher Veränderungen – für die wir jetzt hervorragend im Training sind – unser (und das meint ein globales Wir!) Überleben sichern. Jetzt, morgen und hoffentlich noch viele Jahrhunderte mehr. Vielleicht gibt es dann eine Chance, dass meine Tochter ihrer Tochter einmal eine bessere Antwort auf das absehbare Ende der Klimakrise geben kann, als wir heute auf das Ende von Corona.

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