„Ich scheine wirklich einige Krisen verschlafen zu haben“, sagte Jannis.
»Oh ja«, sagte Erich nachdenklich. »Aufregende Zeiten liegen hinter uns.«
»Das glaube ich gern. Mir wurde gesagt, kurz nachdem ich meinen Komaschlaf begonnen habe, hätte es sogar eine globale Pandemie gegeben. Ist das wahr?«
Erich nickte. »Es gab Ausgangssperren und fast der gesamte internationale Personenverkehr ist zeitweise eingestellt worden.«
»Unglaublich! Wie hast du das Ganze erlebt?«
Erich machte ein ernstes Gesicht. »Da wurden wir alle ziemlich überrascht. Ich habe mir das Virus auch eingefangen und durchlebte einen schweren Krankheitsverlauf. Als Raucher und mit meiner angeborenen Herz-Kreislauf-Schwäche war ich in der Hochrisikogruppe. Zwischenzeitlich habe ich dem Tod tief in die Augen geblickt. Das war sehr herausfordernd.«
»Oh verdammt.« Jannis verzog das Gesicht. »Das tut mir leid zu hören.«
Erich nickte gedankenverloren. »Meine statistische Sterbewahrscheinlichkeit lag bei zehn bis fünfzehn Prozent. Das hat einige existenzielle Fragen aufgeworfen.«
Jannis hörte ihm aufmerksam zu und blickte ernst. »Das glaube ich dir.«
»Ich hatte zum Glück sehr kompetente und einfühlsame Krankenpfleger und Ärzte. Die haben in der Zeit einen Wahnsinns-Job vollbracht! Als ich wieder fit war, habe ich meine nächsten drei Monatsgehälter an eine NGO gespendet, die sich für bessere Arbeitsbedingungen des medizinischen Pflegepersonals einsetzt.«
»Feine Sache. Gut, dass du es überstanden hast.«
Erich strich sich über den Kopf. »Die Erfahrung hat mich auch zum Umdenken in Hinblick auf meine Gesundheit gebracht. Ich habe danach sofort mit dem Rauchen aufgehört und angefangen, mich besser zu ernähren.« Er grinste. »Salat und Gemüse statt Lungenbrötchen.« Jannis musste lachen und Erich fuhr fort. »Außerdem laufe ich seitdem regelmäßig. Vor ein paar Jahren war ich beim Berlin-Marathon dabei.« Erich grinste. »Ich sag dir, die nächste Pandemie kann mir nichts anhaben!«
Jannis lachte.
Erichs Blick schweifte in die Ferne. »Ich habe damals viel über den Tod nachgedacht. Mir wurden dabei zwei Dinge klar. Erstens, dass der Tod in der westlichen Gesellschaft früher ein großes Tabu war. Wir haben dem Leben dadurch viel Tiefe genommen. Unsere Kultur hat damals geradezu panisch versucht, alle Symbole und Zeichen unserer eigenen Vergänglichkeit zu verstecken und zu kaschieren. Doch wer vor dem Tod flieht, flieht auch vor dem Leben.«
Jannis nickte nachdenklich und Erich fuhr fort: »Zweitens, wurde mir klar, dass es wichtig ist, gut zu sterben.«
»Gut zu sterben?«, fragte Jannis. »Was meinst du damit?«
»Das letzte Kapitel sollte dem eigenen Leben würdig sein. Ich möchte meine letzten Tage nicht isoliert in einer künstlichen Vorrichtung verbringen, umgeben von lauter piependen Geräten. Stattdessen wünsche ich mir für mein Ende, in geistiger Wachheit im Kreis meiner Liebsten und ausgesöhnt mit meinem eigenen Leben zu sein.«
»Ja, das sehe ich ähnlich.«
»Die Corona-Krise hat uns damals viele essenzielle Fragen zum Menschsein, zum Leben und zum Tod aufgezwungen. Mir scheint, die Beschäftigung mit diesen Fragen war lange überfällig gewesen.«
Für eine Weile schwiegen sie.
Dann fragte Jannis: »Wie ist denn die Wirtschaft durch die Krise gekommen? Ich habe gehört, es hätte gewaltige staatlich Rettungsmaßnahmen gegeben?«
»Oh ja. Die Wirtschaft hat einen ziemlichen Schlag erlitten und musste vom Staat massiv gestützt werden. In den meisten skandinavischen Ländern ist man recht gut durch die Corona-Krise navigiert.«
»Und wie?«
»Dänemark zum Beispiel hat die Chance genutzt, ein kleines Grundeinkommen auszuprobieren. Das war unter den Umständen viel praktikabler und schneller umsetzbar, als individuell zu prüfen, wer was braucht. Außerdem wurde das Kapital angemessen an den Kosten der Krise beteiligt, indem für einige Zeit alle Zinsen auf null gesetzt und sogar landesweit alle Mietzahlungen und Kredittilgungen ausgesetzt wurden. Das zusammen mit ein paar anderen Maßnahmen hat ermöglicht, dass die meisten Unternehmen und Selbstständigen bei Bedarf ihre Geschäftstätigkeit einfrieren konnten, bis das Schlimmste vorbei war. Man könnte es wohl mit deinem Komaschlaf vergleichen.« Er grinste Jannis an. »Als sich die Dinge wieder normalisiert haben, konnte der wirtschaftliche Betrieb relativ zügig und unbeschadet wieder aufgenommen werden.«
»Und wie hat man das finanziert?«
»Kurzfristig hat der Staat seine Verschuldung einfach erhöht und wurde dabei indirekt auch von der eigenen Zentralbank finanziert. Im Nachgang der Krise hat man eine einmalige Vermögensabgabe erhoben, um die Leistungsfähigsten an der Bezahlung der Krise zu beteiligen. Aber insgesamt wurde nochmal die Debatte zur Staatsfinanzierung durch die Zentralbank aufgeworfen. Es wurde eben sehr offensichtlich, dass der Staat prinzipiell immer Geld durch die Zentralbank mobilisieren kann. In Deutschland wurde die schwarze Null durch die Corona-Krise auch nochmal sehr grundsätzlich in Frage gestellt.«
Jannis runzelte die Stirn. »Aber haben die Sparmaßnahmen vor der Krise nicht erst ermöglicht, in der Krise kräftig Geld auszugeben?«
Erich schüttelte irritiert den Kopf. »Nein, wieso? Es war völlig unsinnig zu sparen, solange Arbeitslosigkeit und Investitionsstau herrschten und eigentlich ein ökologischer Umbau dringend angeraten war. Unter solchen Umständen gibt es schließlich keinerlei Inflationsgefahr, im Gegenteil. Die schwarze Null war reine Ideologie.«
Jannis zuckte mit den Schultern. »Wie ist denn Deutschland in der Corona-Krise verfahren?«
»Da war alles etwas komplizierter und bürokratischer als hier. Als die meisten Landesverwaltungen mit der Umsetzung des Konjunkturpakets überfordert war, hat man schließlich ein landesweites Helikoptergeld an alle Bürger ausgezahlt. Das wurde im Nachgang über die Steuererklärung wieder verrechnet. Somit hat sich der Staat das Geld von denjenigen zurückgeholt, die nicht darauf angewiesen waren. Ansonsten kamen wir ganz okay durch die Krise. Vieles ist nicht ideal gelaufen, aber insgesamt gab es vergleichsweise wenig Tote. Die wirtschaftlichen Schäden waren nicht unerheblich, aber verkraftbar.«
»Und wie lief es in anderen Ländern? Hat sich das Ganze international sehr unterschieden?«
»Schon«, sagte Erich nachdenklich und blickte in die Ferne. »Südeuropa, vor allem Italien und Spanien, hatten anfangs sehr mit dem Virus zu kämpfen und hohe Todeszahlen. Erst dank drastischer politischer Maßnahmen hat sich die Lage in den Ländern irgendwann beruhigt. Erfreulich war, dass viele Staaten den am meisten betroffenen Ländern durch die Entsendung medizinischen Personals und Hilfsgüter großen Beistand geleistet haben. Die internationale Gemeinschaft ist aus der Corona-Krise auf jeden Fall gestärkt hervorgegangen. Es wurde sehr offensichtlich: Wir sitzen alle im gleichen Boot und gemeinsam sind wir stark.«
»Das ist erfreulich!«
»Ja. Auch die EU ist in einer Welle der neuen Solidarität erblüht. Am Ende hat auch Deutschland die Vergemeinschaftung der Staatsschulden durch Euro-Bonds mitgetragen, um zu helfen, die Finanzierung der Südländer zu stabilisieren.«
Jannis nickte. »Das freut mich sehr zu hören! Die EU war damals ganz schön in der Zerreißprobe durch die Nachwehen der Eurokrise und durch den Brexit.«
»Oh ja.« Erich verzog das Gesicht. »Großbritannien hat es übrigens hart getroffen. Aber es schlimmsten traf es wohl die USA.«
»Wieso?«
Erich schüttelte den Kopf. »Das dunkle Vermächtnis von Jahrzehnten neoliberaler Politik und schlechten Krisenmanagements. Die Konjunkturpakete wurden zu Selbstbedienungsläden für die großen Konzerne. Die wurden allesamt verhätschelt und gerettet, aber viele kleine und mittlere Unternehmen sind Pleite gegangen. Außerdem hat sich in den USA die schlechte öffentliche Infrastruktur und für große Teile der Bevölkerung das Fehlen einer Krankenversicherung bemerkbar gemacht. Das hat viele Menschen in tiefe Not gestürzt. Die USA hatten am Ende weltweit die meisten Toten zu verzeichnen.«
»Das klingt wirklich schlimm! Mit Trump an der Spitze war eine verantwortungsvolle Krisenpolitik wohl nicht zu erwarten.«
»Nein. Absolut nicht. Sein zerstrittenes Kabinett war völlig unfähig, mit der Krise verantwortlich umzugehen. Zumindest hatte das auch für ihn seinen Preis. Er hat in der Krise versucht, sich als tapferer Kriegspräsident zu positionieren und als alles nichts half, den dritten Golfkrieg angefangen, aber eine zweite Amtszeit konnte er vergessen. Generell wurden viele Populisten abgestraft. Es wurde offensichtlich, dass diese zwar gut im Meckern und Anprangern sind, aber mehr auch nicht.«
»Na, dann hatte das Ganze zumindest auch etwas Gutes.«
»Allerdings haben die Regierungen in einigen Ländern die Krise auch als Rechtfertigung genutzt, um die Überwachung der Bevölkerung durch Handydaten auszuweiten und grundlegende Bürgerrechte dauerhaft einzuschränken. In Großbritannien wurde zeitweise auch versucht, das Bargeld abzuschaffen, da es angeblich eine Keimschleuder sei. Eigentlich ging es darum, die staatliche Kontrolle über die Bürger auszuweiten. Das ist aber zum Glück alles am beherzten Aufbegehren einiger Nichtregierungsorganisationen und am Widerstand der britischen Bevölkerung gescheitert.«
Jannis schwieg einen Moment nachdenklich und schaute Erich dann fragend an. »Wieso hat die Corona-Krise trotz der ganzen Verwerfungen für die Wirtschaft eigentlich nicht zum Ausbruch einer Finanzkrise geführt? Der Big Bang kam jedenfalls erst ein paar Jahre später, oder?«
»Nun ja, eine Finanzkrise gab es schon, aber es wurde einfach alles was nicht niet- und nagelfest war, vom Staat gerettet oder von der Zentralbank aufgekauft. Für die maroden Großbanken war die Corona-Krise der ideale Vorwand, die Schuld all ihrer Probleme von sich zu weisen und auf das Virus zu schieben.«
Jannis nickte nachdenklich. »Durch staatliche Rettungsmaßnahmen wurde ein Ausbruch der Krise also verhindert?«
»Ja, die richtige Eruption kam erst ein paar Jahre später, denn an den Grundproblemen des Finanzsystems hatte man in den meisten Ländern nichts geändert. Doch der Druck im Kessel war dadurch weiter gestiegen. Nur weil eine Krise nicht ausbricht, heißt das nicht, dass es keine Probleme gibt. Mit jeder Bankenrettung wurden demokratische und marktwirtschaftliche Prinzipien weiter untergraben, die Ungleichheit erhöht und gesellschaftlich schädliche Fehlanreize geschaffen. Man denke etwa an die vielen Spitzenmathematiker, die in den Finanztürmen komplizierte Finanzprodukte entwickelt haben, um irgendwelche Steuerspartricks auszunutzen, statt an der Heilung von Krankheiten oder an der Verhinderung des Klimawandels zu forschen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wurde damit systematisch ausgehöhlt und dagegen hat die Bevölkerung irgendwann aufbegehrt.«
»Das klingt, als hätte das Corona-Virus den Grundstein für einige Veränderungen gelegt.«
»Auf jeden Fall. Vieles hat sich verändert: Die Arbeitswelt war danach nicht mehr die Gleiche. Homeoffice und virtuelle Meetings wurden selbstverständlich und auch die Soziokratie als agile Organisationsform hat sich danach stark ausgebreitet.« Erich nickte nachdenklich. »Ich erinnere mich auch noch, dass es nach Aufhebung des Shutdowns zu einem Run auf die Dörfer kam. Gerade in den Städten, wo die Menschen in ihren kleinen Wohnungen für Wochen eingesperrt waren, entstand bei vielen ein Bedürfnis nach mehr Freiraum in der Natur und einem eigenen Garten.«
»Ich habe in Frankreich solche Concept Villages gesehen. Sind die auch in dieser Phase entstanden?«
»Ja genau. Der Hype ging danach los. Das Corona-Virus hat wirklich viel verändert.« Erich schwieg einen Moment und fuhr dann fort. »Ich glaube, die Corona-Krise war einer dieser historischen Momente, in dem alles möglich war. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie verwirrend es war, völlig unterschiedliche Einschätzungen zur Lage zu hören. Die einen prophezeiten den großen Untergang und Massensterben, während andere die erzwungene Entschleunigung im Shutdown und leuchtende Beispiele der Solidarität als Erwachen einer neuen Menschlichkeit deuteten. Wahrscheinlich hatten alle auf ihre Weise Recht und jedes dieser Szenarien war eine mögliche Zukunft. Es war an der Menschheit, zu wählen.«
»Und wie hat sie gewählt?«
Erich lächelte. »Ich glaube, insgesamt haben wir eine gute Wahl getroffen. Mehr Solidarität, mehr internationale Gemeinschaft, mehr Entschleunigung und vor allem mehr Nachhaltigkeit. Es hat sich gezeigt, wie schnell die Erde sich regenerieren kann, wenn wir Menschen sie wieder atmen lassen. Vielleicht hätten wir den Klimawandel ohne die einschneidende Erfahrung der Corona-Krise nicht aufgehalten.«
Jannis hob amüsiert eine Augenbraue. »Die vielbeschworene Krise als Chance.«
Erich schmunzelte. »Ja, vielleicht...«
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